Dienstag, 16. Mai 2006

S p ä t


Wie alle Tage sitzt sie am großen, gardinenfreien Fenster.
Die Natur drängt sich glanzvoll in ihr Zimmer.
Doch etwas ist heute ganz anders. Es lässt die Wirklichkeit
neblig werden – verschwimmen.
Auf ihrem Schoß liegt ein vergilbtes Foto, gefunden zwischen
Papierkram. Immer und immer streichen die faltigen Hände liebevoll darüber.
Ihr Blick schweift dabei in die Weite des Parks und bleibt an einer Baumgruppe haften. Wahrnehmen kann ihr Verstand diese nicht.
Er bekommt weite Flügel.

Sie musste zu ihm, weil am nächsten Tag hunderte Augenpaare ihre Zweisamkeit unerträglich stören würden. Kaum auszuhalten waren bereits die vielen Fragen von Nachbarn und Bekannten.
Heimlich, damit die Familie sie nicht zurückhielt oder hinterher löcherte.
Mit bangem Gefühl stieg sie die Anhöhe hinauf zum kleinen Haus. Eine schwarz gekleidete Frau stand dort und alles wirkte noch beklemmender.
„Bitte, ich möchte da rein – zu ihm."
Vor Mundtrockenheit wäre ihr dieser Satz fast nicht gelungen. Schlucken und nach Stärke aussehen. Ja, dies konnte sie schon damals gut.
Seltsam lächelte die Frau und musterte sie dabei eindringlich. Doch sperrte sie unerwartet schnell auf. „Wenn du mich brauchst, ruf“, sie strich ihr sekundenlang über das Haar. „Kann ich dich allein lassen?“ „Ja, lassen sie die Tür aber auf, bitte.“
Nein, sie wollte niemanden dabei haben, nein. Er und sie allein, deshalb einen Tag vorher.
Das erste, das sie im Zwielicht sah, war sein lächelnder Mund.
Oh, wie gut.
Zwischen seinen Lippen befanden sich winzige Speichelbläschen, das volle Haar ordentlich gekämmt und das fast faltenfreie Antlitz strahlte Zufriedenheit aus. Ihre aufkeimende Panik ging in vollkommene Ruhe über.
Er hatte sich nicht verändert. Nur die Äderchen auf seinen Wangen fehlten und seine leuchtend hellblauen Augen konnten sie nicht anschauen.
Sie nahm ihn lange in sich auf, jedes Detail.
Doch dann sprudelte es aus ihr:
„Warum hast du das getan? Es ist doch so schönes Wetter, Emma hat gestern ihr erstes Ei gelegt, ich brauche deine Farben für mein Bild, du sollst auf mich nach der Schule warten, sagen wie fein ich alles gemacht habe, wie stolz du auf mich bist, dass ich dein liebstes bin. Du hast versprochen, mich nie im Stich zu lassen. Zu wem soll ich jetzt gehen, wenn ich geärgert werde? Komm mit nach Hause, du warst immer nur gut. Schau mich doch an!"
„Du bist jetzt über eine Stunde hier und überhaupt, dass ist zu viel für ein so zartes Mädel." Die Frau stand in der Tür und sprach sanft weiter: "Ich habe längst Feierabend, geh jetzt."
„Ja, bis morgen."
Knarrend drehte sich der Schlüssel im Schloss der schweren Leichenhallentür.

„Frau Wagner, welchen Tee möchten sie zum Abendbrot, wieso sitzen sie im Dunkeln?“
Die Schwester knipst das Licht an und schiebt den Rollstuhl an den Tisch „und warum weinen sie? Das machten sie doch noch nie."
„Ach, Schwester Christa, Kräutertee. Und ich war gedanklich weit weg, spürte keine Dunkelheit. Dafür begreife ich nach 80 Jahren, 4 Ehen und 7 Kindern, dass auch ich ein Mal geliebt wurde.
Ich war bei meinem Großvater."


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